Akzidenz
Es kann auch anders sein.
Akzidenz kann verstanden werden als das, was weder unmöglich noch notwendig ist oder kurz als: das Auch-anders-sein-Können. Als Akzidenzphänomene lassen sich daher typische Phänomene des Auch-anders-sein-Könnens bezeichnen, ein Vexierbild etwa, wie das, das entweder zwei Gesichter im Profil oder eine Vase zeigt (s. Bild).
Die Geschichte scheint als eine Reihe von Akzidenzereignissen lesbar. Vormalige Gewissheiten wurden mit der Entwicklung der Wissenschaften sukzessive in den Modus des Auch-anders-sein-Könnens überführt. Selbst in Bereichen, deren Phänomene für über(raum)zeitlich gültig gehalten wurden, wie etwa in der Geometrie, ist diese Tendenz der Akzidenzialisierung aufspürbar: Die Winkelsumme eines Dreieckes ist bei extrem langen Seitenlängen (in der elliptischen Geometrie) z.B. größer als 180 Grad.
In der Philosophie hat die Beschäftigung mit dem Sein und Anders-Sein gewissermaßen mehrere Wandlungen hinter sich, etwa von der Lehre vom Sein, der Ontologie, hin zu der Lehre vom Sein für Bewusstsein und damit vom jeweiligen Anders-Sein der Phänomene, der Phänomenologie. Die Seinsvorstellungen der antiken Ontologie sind, bei aller Faszination für diese Zeitzeugnisse, heute und für mich nicht zentral. In der Phänomenologie und speziell bei Heidegger kann ein langer Anlauf des Akzidenzbewusstseins als an einem vorläufigen Höhepunkt gelten. Das geht mit Heideggers Konzeption der Technik als Gestell einher, die er als das Wesen der modernen Technik erklärt.
Die Technik fordert nach Heidegger den Menschen immer schon heraus und auf, mit ihr transformierend (hervorbringend) auf die Welt einzuwirken und sie so für sich zu entdecken (zu entbergen, zu lichten). Der Mensch ist mit Heidegger nicht ohne seinen technischen Bezug zur Welt zu denken, er steht immer schon im „Wesensbereich des Ge-stells. Er kann gar nicht erst nachträglich eine Beziehung zu ihm aufnehmen.“, so Heidegger. Deutlicher Ortega y Gasset: „Ein Mensch ohne Technik […] ist kein Mensch.“ Mittels Technik entdeckt der Mensch die Welt und fördert Brauchbares zu Tage. Das betrifft die Förderung von Kohle als Energierohstoff, das Hervorbringen von Nahrung durch Bestellen der Äcker, das Entdecken von Abläufen der Kernspaltung oder der Photovoltaik zur Energiegewinnung. Heidegger subsummiert diese Formen des Hervorbringens im Terminus Entbergen. Dieses Hervorbringen oder Aufdecken der Technik (τέχνη) bezieht er mit (seinem) Aristoteles auf das künstlerisch-schöpferische Hervorbringen (ποίησις).
Technik ist also eine Perspektive auf die Welt, die sich darauf richtet, das Veränderbare in der Welt als Objekt menschlich manipulativen Zugriffs zu enthüllen, also technisch-poietisch hervorzubringen. Diese Weise des Weltwahrnehmens als stets Zuhandenem, als bereits in der Wahrnehmung auf seinen Gebrauch, seine Handhabung hin Wahrgenommenes wurde 2008 von Seiten der Neurophysiologie mit der Entdeckung der Spiegelneuronen neurowissenschaftlich bestätigt.
Entsprechend ist ein Mensch „im Wesensbereich“ der Technik jemand, dem sich die Welt als durch diese Technik handhabbar, veränderbar darstellt. Aus zweierlei Gründen bedeutet dies eine Betonung der Akzidenz: Einerseits, da das Veränderbare (der Bestand), als das die Welt so erscheint, die Sphäre der Akzidenz ist. Denn man kann nur ändern, was auch anders sein kann. Der Bestand, auf den sich der technische Weltbezug und überhaupt jedes Handeln des Menschen richtet, ist das Veränderbare, ist Akzidenz. Denn, was nicht anders sein kann oder überhaupt nicht ist, das kann nicht Gegenstand unseres Handelns, sondern nur unseres Erduldens sein; d.h. der technische Fortschritt, die stetige Reichweitenerhöhung technischer Manipulation, die Expansion des Herstellen-Könnens (des invertierten Utopisten) wäre folglich eine Expansion der Akzidenz. Was technisch transformierbar ist, und das ist heute fast alles, inklusive Form und Möglichkeit des Menschen selbst, ist akzidentiell. Andererseits setzt eine Philosophie, die der Technik eine derart zentrale Rolle einräumt, zwangsläufig auch deren technospezifischen Akzidenzphänomene, also Unfälle, zentral. Von dem vorläufigen Höhepunkt des Akzidenzbewusstseins gilt es jedoch weiter voranzuschreiten, da sich Akzidenz nicht nur auf Unwesentliches, Zufälliges und Unfälle bezieht.
Einiger dieser Schritte sowie eine Herleitung und Darstellung der Akzidenzexpansion und des Akzidenzbewusstseins habe ich in meiner Untersuchung Vorausschauendes Denken – Philosophie und Zukunftsforschung jenseits von Statistik und Kalkül (transcript 2015) vorgelegt.