Neue Mensch-Technik-Relationen Neue Herausforderungen

“Ein Mensch ohne Technik… ist kein Mensch.” – “Halten wir daher fest, daß die Technik fürs erste die Anstrengung ist, Anstrengung zu ersparen.”
(Ortega y Gasset)

“Wegen der Größe der Frage, was damit aus den Menschen werden kann, ist die Technik heute vielleicht das Hauptthema für die Auffassung unserer Lage. Man kann den Einbruch der modernen Technik und ihre Folgen für schlechthin alle Lebensfragen gar nicht überschätzen.”
(Karl Jaspers)

Einige Beiträge zu Technik-Relationen…

Philosophie neuer Mensch-Technik-Relationen

Interview von 2017

Am Forschungskolleg FoKoS der Universität Siegen wird derzeit ein neuer Arbeitsbereich zur „Philosophie neuer Mensch-Technik-Relationen“ aufgebaut. Den Bereich gestaltet der Technikphilosoph Bruno Gransche, der seit Anfang 2017 FoKoS-Mitarbeiter ist. Sein Forschungsprofil adressiert aus philosophischer Sicht sowie unter Perspektive der Zukunftsforschung (Foresight) das Verhältnis von Mensch und Technik. In einem Interview stellt Bruno Gransche Hintergründe und Vorhaben vor.

Herr Gransche, warum legen Sie den Schwerpunkt auf Mensch-Technik-Relationen?

Der Fokus auf Relationen ist Programm, weil er besondere Erkenntnisse über komplexe Phänomene verspricht: Kunst ist beispielsweise eine Relation zwischen Künstler, Betrachter und Werk. Design ist die Gestaltung von soziotechnischen Relationen. Das Neue ist immer nur neu in Relation zu einer Unkenntnis. Zwecke und Mittel im technischen Handeln sind nur solche in Relation zueinander. Vielleicht ist das letzte Beispiel besonders aufschlussreich, da die Relation hier die Relata bestimmt. Man könnte meinen, wenn ich nicht klar weiß, wie die Konzepte ‚Mensch‘ und ‚Technik‘ zu definieren sind, kann ich auch nichts über deren Relation sagen. Aber das ist nicht so. In der Zweck-Mittel-Relation werden die Relata ja auch über die Relation bestimmt, d. h., ein Mittel existiert nur als ‚Mittel zum Zweck‘ nach Maßgabe seiner Zweckdienlichkeit und ein Zweck ist nur deshalb kein Wunsch, weil er als realisierbar durch Mittel angesehen wird. Es wurde und wird versucht, die Konzepte ‚Mensch‘ und ‚Technik‘ zunächst an sich und dann in ihrem Verhältnis zueinander zu bestimmen, was aber m. E. der heutigen Komplexität der Sache nicht gerecht wird. Der Versuch in der philosophischen Anthropologie zu bestimmen, was ‚der Mensch‘ und was ‚spezifisch menschliche Eigenschaften‘ (sog. Humana) seien, sehe ich als überholt an. Ebenso ist der Versuch, zu bestimmen, was ‚Technik‘ sei, an ähnliche Grenzen gestoßen: Ist sie Organprojektion, Summe der Mittel und Prozesse, gesicherter wiederholbarer Mitteleinsatz oder ‚die Anstrengung, Anstrengung zu vermeiden‘? Die Phänomenbereiche Mensch und Technik wandeln sich hoch dynamisch und damit auch ihr Verhältnis zueinander. Ist etwa ein gegen Grippe geimpfter Mensch – ein Mensch also mit pharma-technisch manipuliertem Immunsystem – nun Teil des Bereiches Technik oder Teil des Bereiches Mensch? Und was wäre mit der Entscheidung für eine dieser Varianten gewonnen? Der Blick auf Relationen erlaubt es hier, das Technische an Impfungen und das Natürliche, Biologische oder – wenn Sie wollen – ‚Menschliche‘ am Immunsystem zu betrachten und zwar weitestgehend ohne fundamentale ontologische oder anthropologische Stellungsdebatten.

Wie verändern sich denn die Mensch-Technik-Relationen und was wären in diesem Kontext die Herausforderungen?

 Besonders im Zuge der Digitalisierung beschleunigt sich eine Entwicklung, die Technik in immer mehr Lebensbereichen allgegenwärtig werden lässt. Damit stellt sich die Frage, wie Menschen und Technik einander begegnen neu, wenn zum Beispiel Roboter nicht mehr wie in der Produktion vom Menschen mit Käfigen getrennt werden, sondern im Haushalt ‚wohnen‘ und arbeiten oder andere Menschen pflegen und diagnostizieren. Die Beziehung zwischen Menschen und mechanischen Werkzeugen ist eine völlig andere als die zwischen Menschen und intelligenten vernetzten Systemen. Der technische Wandel wird heute mit viel Aufwand untersucht und vorangetrieben. Technologien selbst, ihr Reifegrad, ihre Verbreitung und Potenzial sind allerdings nie ‚die‘ Triebkraft gesellschaftlicher Veränderungen. Die sich verändernden Relationen zwischen Technischem und Sozialem, zwischen Menschen und Technik sind daher heute dynamische und folgenreiche Forschungsobjekte. Eine der plakativsten Fragen, die aber oft zu vereinfacht diskutiert wird, ist die Frage nach der Kontrolle (übrigens auch ein Relationstyp); also die Frage „Wer kontrolliert wen?“ oder „Kontrolliere ich komplexe Systeme wie ich  einen Schraubenzieher kontrolliere oder kontrollieren autonome Systeme weite Bereiche meiner Wahrnehmung, Entscheidungen und Handlungen?“ Klar ist, dass Menschen nicht mehr die einzigen sind, die im Umgang mit Technik etwas lernen, sondern auch technische Systeme lernen immer mehr über Menschen und den passenden Umgang mit diesen. Es stellen sich weitreichende Folgefragen: Werden wir zu passiven Nichtskönnern, wenn wir jedes Fingerheben an immer fähigere Assistenzsysteme delegieren? Wie wandelt sich unser Verhältnis zur Arbeit, wenn wir statt einen gesamten Prozess zu überblicken nur noch ad hoc als improvisationsfähige Troubleshooter von sonst autonomer Technik gerufen werden? Können Entscheidungen und damit auch Verantwortung an lernende Systeme abgegeben werden, auch wenn diese Systeme keine Handlungssubjekte im eigentlichen Sinne sind? Wissen wir in ubiquitären soziotechnischen Systemen eigentlich noch, wann wir es mit einem Menschen und wann mit Algorithmen, Chat-Bots oder Robotern zu tun haben? Wie verändert sich unser Alltag, wenn technische Systeme etwas über die Menschen wissen und Auto, Küche, Handy, Schreibtisch etc. sich in einer informatisierten Welt aufgrund dieses datafizierten Vorwissens proaktiv umstrukturieren? Diese und  viele weitere Fragen sind Gegenstand der Perspektive Philosophie neuer Mensch-Technik-Relationen.

Das klingt nach einem riesigen Feld – wie wollen Sie das am FoKoS angehen?

 In der Tat ist der Forschungsbedarf zu Herausforderungen heutiger und im Entstehen befindlicher Mensch-Technik Verhältnisse gigantisch, allein deshalb, weil die Phänomenbereiche Mensch und Technik schon gigantisch und zudem hoch dynamisch sind. Denken sie etwa an Schlagworte wie Internet of Things, Big Data, Machine Learning, Cyberphysical Systems, Ubiquitous Computing, Smart-Everything, Industrie 4.0 usw. Hier gibt es tendenziell zwei Missverhältnisse: Einerseits werden Entwicklungen breit diskutiert, die vom technologischen Reifegrad oder der Umsetzbarkeit her noch jenseits auch nur prototypischer Realisierung liegen – wie etwa weite Bereiche des sog. Neuro Enhancement. Andererseits wurden bereits soziotechnische Tatsachen geschaffen, ohne dass adäquat über deren Implikationen diskutiert würde; dies trifft beispielsweise auf den Boom von Assistenzsystemen mit primärer Komfortorientierung zu. Wer sagt denn, dass der ‚Bequemismus‘ auf Dauer die Hauptgestaltungsdirektive für unseren Technikumgang sein sollte und dass wir immer mehr Alltagsdinge an intelligente Assistenten wie Siri, Alexa & Co. Abtreten sollten? Am FoKoS möchte ich daher einen Bereich aufbauen, der aus Sicht der Philosophie – besonders der Technikphilosophie, Handlungstheorie und Ethik – zum einen den wichtigen Relationen-Fokus einnimmt und nicht im philosophischen Elfenbeinturm zum tausendsten Mal fragt: Was ist der Mensch? Was ist Technik? Dazu gehört zweitens – und diese Perspektive speist sich bei mir v. a. aus der Zukunftsforschung/Foresight – die aktuell informierte Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Stand der Technik und schon im Entstehen befindlicher Phänomene. Es mag philosophisch spannend sein, zu reflektieren, ob wir womöglich nur ein Gehirn in einem Tank sind, was so eine Mischung aus den Matrix-Filmen und Descartes Täuschungsdämon darstellt. Das wäre für mich aber ein weiteres Beispiel besagter Missverhältnisse, das zwar transhumanistische Phantasien befeuert, aber nichts mit anstehenden Herausforderungen aktueller Mensch-Technik-Relationen zu tun hat.

Wie planen Sie denn den Bereich auszurichten, um diesen beiden Aspekten in dem „gigantischen Feld“ gerecht

werden zu können? Ein erster Teil des Bereiches Philosophie neuer Mensch-Technik-Relationen wird sich gemäß meinem Profil als Philosoph und Zukunftsforscher mit ‚zuvorkommender Technik‘ befassen. Dabei meine ich zuvorkommend im zweifachen Sinne, nämlich als höflich und als zeitlich proaktiv. Die relationale Perspektive hierbei ist der Befund, dass neuere Technik den Menschen zuvorkommt, also über die Menschen lernt und profilbasiert Informationen, Schnittstellen, Services etc. proaktiv vorstrukturiert, ohne dass die Nutzer diese Vorarbeit bewusst mitbekommen. Grundlage dieser Vorstrukturierungen sind u. a. digitale Vermutungen über Nutzerpräferenzen, die sich bezeichnenderweise predictions nennen. Denken Sie an die berühmte Szene des ersten Matrix-Filmes, in der Morpheus Neo eine rote und eine blaue Pille zur Wahl stellt: Zuvorkommende Technik würde heute aus Ihren vergangenen Entscheidungen eine prediction- Vermutung ableiten und Ihnen z. B. nur noch blaue Pillen zur Wahl stellen, weil ihr datafiziertes Abbild eben bisher ein Blaue-Pillen-Typ war. Damit wird das Zuvorkommen, das unter Umständen als Entlastung und individualisierte Komfortleistung gedacht war, zur Entmündigung, weil es Ihnen Wahlmöglichkeiten entzieht und zwar ohne, dass Sie wissen können, dass es auch rote Pillen gegeben hätte. Zeitlich zuvorkommende Technik interveniert vorhersagebasiert in unsere Handlungsabläufe und ändert den Möglichkeitsraum dessen, was wir wahrnehmen, entscheiden, tun und sein können – und das meist ohne unser Wissen. Der Zusammenhang von machine learning, predictive technologies und menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten und Zukunftsräumen ist also ein erster Teil des neuen Bereiches.

Und der zweite Teil…?

 Ein weiterer Teil bezieht sich auf die zweite Bedeutung von zuvorkommend, nämlich höflich. Wenn Menschen und technische Systeme wie soziale Robotik immer mehr Lebensbereiche teilen, dann werden die autonomen Systeme als soziale Agenten in zwischenmenschlichen und hybriden Interaktionssituationen bestehen müssen. Höflichkeit ist ebenfalls eine Relation, nämlich als Frage der sozialen Angemessenheit von Verhalten und Kommunikation. Welche Intervention eines Menschen oder Roboters als je sozial angemessen oder unangemessen gilt, hängt entschieden von der Relation der Interaktionspartner ab; welchen sozialen Status sie sich zumessen, wie und als was sie sich gegenseitig anerkennen etc. Das ist zwischen Menschen schon höchst kompliziert und wenn künstliche Agenten im alltäglichen sozialen Miteinander nicht als Belästigung oder Störung auffallen sollen, müssen sie soziale Situationen, den Status der Beteiligten sowie deren Erwartungen dem Agenten gegenüber in die Wahl ihrer Interventionen einbeziehen können. Wir planen dazu in dem neuen Bereich gerade ein dreijähriges Forschungsprojekt zur Untersuchung sozialer Angemessenheit und verhaltensbezogener Kulturtechniken von Assistenzsystemen bzw. sozialer Robotik. Das Projekt findet unter meiner Leitung in Zusammenarbeit mit einem sozialpsychologischen Team von Prof. Friederike Eyssel vom Center of Excellence Cognitive Interaction Technology (CITEC) in Bielefeld statt. Gemäß dem genannten Fokus gehen wir am FoKoS dabei von philosophischen Positionen aus, leisten aber eine aktuell informierte Auseinandersetzung, zu der wir umfassend den Stand der Forschung sowohl sozialer Angemessenheit als auch sozial intervenierender technischer Systeme erforschen. Damit erarbeiten und transferieren wir die Grundlagen für angewandte Forschung und für informierte normative Entscheidungen über einen neuen Mensch-Technik-Relationstyp: höfliche Technik.

Was sind die nächsten Schritte am FoKoS?

poliTE könnte schon diesen Sommer starten. In den kommenden Monaten werden drittmittelfinanzierte wissenschaftliche Mitarbeiterstellen bzw. Qualifizierungsstellen im Bereich Philosophie neuer Mensch-Technik-Relationen geschaffen und eine entsprechende Nachwuchsforschergruppe aufgebaut. Wir informierenüber die FoKoS-Webseite über die aktuellen Entwicklungen und Ausschreibungen.

Das Interview führte Trixi Agatha.

Trixi Agatha und Bruno Gransche